„Heute habe ich meine Schnapsschuhe an“, kündigt die Dame am Einlass an und grinst breit. „Für den Feierabend natürlich.“, fügt sie hinzu. Egal wohin man blickt, die Menschen haben ein breites Lächeln im Gesicht. Egal ob Security, Mitarbeiter oder Festivalbesucher. Kein Wunder, es ist Mittwochnachmittag, die Sonne scheint und es ist Chiemsee Summer. Die Zeichen für ein perfektes Wochenende stehen gut.
Sommer, Sonne, Festivalgefühl
Passend zum wunderbaren Wetter und dem strahlendblauen Himmel eröffnen Irie Révoltés das Festival und besingen mit „Soleil“ gleich das gute Wetter. Es ist ihr letztes Konzert, bevor sie ihr Bandprojekt beenden. Trübseligkeit kommt dennoch nicht auf, das lässt der kraftvolle Mix aus Punk, Reagge und Hiphop gar nicht zu, das letzte bisschen Traurigkeit wird vom lauten Bass weggepustet, bis wirklich jeder tanzt. Irie Révoltés wären aber nicht die Band, die sie die letzten Jahre gewesen sind, würden sie nicht ihre Stimme auf der Bühne für die gute Sache nutzen. So gibt es mit „Antifaschist“ und „Rebelles“ oder „Allez“ klare politische Ansagen, in Zeiten wie diesen wichtiger denn je. Schon allein aus diesem Grund werden Irie Révoltés fehlen. Erstaunlicherweise war der Platz vor der Bühne aber noch gering gefüllt. Allerdings auch nachvollziehbar, lockte doch der Chiemsee und der nahegelegene Fluss zu einem Bad.
Royal Republic begeistern beim Chiemsee Summer
Abschiedsschmerz kann aber kaum aufkommen, Royal Republic stehen auf der Bühne. „When I see yo dance with another“, schallt einem von den Schweden entgegen. Vor der Bühne ist inzwischen angenehmer Schatten, perfekt, um die ersten Moshpits zu eröffnen. Das Chiemsee Summer Publikum reagiert allerdings erst einmal verhalten auf die Herren in den schicken Anzügen, es ist klar: Das wird kein Heimspiel für die Band um Frontman Adam Grahn, heute müssen sie etwas schwerer arbeiten als sonst. Mit ihren Klassikern wie „Tommy Gun“, „Underwear“ und „Full Steam Spacemachine“ stellt das allerdings eine sehr einfache Aufgabe dar. Dem feinen schwedischen Rock kann keiner widerstehen, spätestens nach der Akkustikversion von „Addictive“ haben Royal Republic sich in das Herz des Festivalpublikums gespielt. Es macht doch nichts mehr Spaß, als lauthals „I am A-dic-dic-dic-dic-dicted to you“ mitzugröhlen. Der schlechte Wortspielwitz ist einfach zu schön. Abgesehen von der Tatsache, dass hier überaus deutlich wird, was für exzellente Musiker da eigentlich auf der Bühne stehen. Schlussendlich haben Royal Republic ihre Mission am Chiemsee Summer aber erfolgreich beendet: Das Publikum ist begeistert und tanzt. Der Weekendman ( das kleine Teufelchen auf der Schulter, das einen dazu bringt sehr schlechte Entscheidungen zu treffen. Zum Beispiel fünf Bier zu trinken, anstatt dem geplanten einen, so rklärt Grahn das Phänomen) hat auch an einem Mittwoch wieder zugeschlagen.
SDP – die Festivalüberraschung
Das Chiemsee Smmer wäre aber nicht das Chiemsee Summer, würde es nicht mit mindestens einer faustdicken musikalischen Überraschung aufwarten. Der Preis für den Surprise-Act des Festivals geht in diesem Jahr an SDP. Hat man sich beim ersten Blick auf den Timetable noch gewundert, warum zur Hölle diese Band den Co-Head Slot bekommen hat, wird nach kurzer Zeit schnell klar weshalb: Die Berliner treffen den Zahn der Zeit, den musikalischen Geschmack der Festivalbesucher. Mit ihren tanzbaren Songs, ein bisschen „Fick-dich“-Attitüde und Lebenslust machen Songs wie „So schön kaputt“ tatsächlich wirklich Spaß. Kaum haben SDP die Chiemsee Summer Bühne betreten, ändert sich die Stimmung komplett: der Frontstage Bereich ist prall gefüllt, Mädchen sitzen auf den Schultern, es wird mitgesungen. Wir müssen an dieser Stelle den Hut vor den Veranstaltern ziehen: SDP hatten für dieses Publikum tatsächlich würdiges Co-Head Potenzial, sie passten wie die Faust aufs Auge zu den Besuchern.
Festivalveteranen Billy Talent haben das Chiemsee Summer im Griff
Von SDP gut angewärmt, konnte sich das Publikum nun auf Billy Talent freuen. Die Kanadier sind absolute Festivalveteranen und derzeit auf Deutschlandtour. Wo Billy Talent sind, da ist von vorn herein klar, wird die Luft brennen. Mit Songs wie „A Devil in a Midnight Mess“ oder „Rusted from the Rain“ eröffnen sich die ersten großen Moshpits. Für einen besonderen Gänsehautmoment auf dem Chiemsee Summer sorgen sie mit „Nothing to loose“, ein Song, den sie den verstorbenen Sängern Chris Cornell und Chester Bennington widtmen. Wieder einmal wird klar, welch großes Loch der Tod der Soundgarden und Linkin Park Sänger in die Musikfamilie gerissen haben. Das Publikum honoriert diese Geste mit großem Applaus. Deutlich wird jedoch: Die Songs der ersten drei Alben sind grandioser Alternative Punk, jedoch wirken die weiteren Alben („Afraid of Heights“) live deutlich zahnloser. Das tat der Gesamtstimmung jedoch keinen Abbruch.
Wer jetzt noch kraft hatte, nach dem Aufbau des Campingplatzes und einem ersten, anstrengenden Tag, der konnte den Abend noch einmal genüsslich auf der Zeltbühne bei den Drunken Masters ausklingen lassen.
Chiemsee Summer 2017 deutlich verkleinert
Blickt man übrigens ins Rund, zeigt sich, dass das Chiemsee Summer deutlich kompakter ist, als die Jahre zuvor. Natürlich gibt es das inzwischen obligatorische Riesenrad, jedoch wurde eine Zeltbühne komplett wegrationiert. Die sonst so beliebte Einkaufsmeile wurde drastisch verkleinert, bis auf einige wenige Stände ist Shopping auf dem Chiemsee Summer nicht mehr möglich. Ebenso wie ein ausgedehntes Erlebnis für die Geschmacksknospen. Konnte man letztes Jahr noch irgendwo zwischen Lachsdöner und Vincent Vegan schlemmen, ist das diesjährige Angebot begrenzt. Es bleibt bei den Klassikern aus Pommes, Pizza und Asiapfanne. Zur Abwechslung gibt es allerdings Kässpätzle und den Alpenrösti-Döner, bei dem das Foodliebhaberherz lacht und der durchaus Chancen auf den Festivalfood-Jahresfavoriten hat.
Allgemein geht es doch recht gesittet und ordentlich zu, beim Chiemsee Summer. Sowohl die Ordner als auch das Publikum hat gute Laune, sodass auch am Donnerstags Acts wie Biffy Clyro gut ankommen. Abgesehen von den Schotten, ist der Tag allerdings eher dem Deutschrap geschuldet. Neben den Beginner stehen unter anderem auch Kontra K und SSIO. Letzterer präsentiert sich wie gewohnt samt Entourage mit einem Hauch Geschlechterdiskriminierung.
Freitag. Ein Tag voller Hengstinnen
Ähnlich raplastig geht es dann auch am Freitag weiter, diesmal allerdings mit geballter Frauenpower, eine wunderbare Abwechslung zu SSIO’s frauenverachtenden Texten vom Vortag. Den Anfang machen das Berliner Duo SXTN, die mit ihrer Wortwahl doch für einige erstaunte Mienen im Publikum sorgen. Eine ähnlich offene Sprache wählt auch Rapperin Sookee, sie legt ihren Schwerpunkt in ihren Texten aber besonders auf politische Themen und schafft es, innerhalb ihres Sets alle gesellschaftlich relevanten Themen anzusprechen. Sie scheint happy zu sein, als sie ihren ersten „Nazis raus“ Sprechchor anzetteln kann. Ihre ersten Eindrücke von Bayern waren laut ihr nicht ganz so positiv, dass das Chiemsee Publikum aber so begeistert mitmacht, gefällt ihr dann doch sichtlich. Es ist angenehm zu sehen, dass eine Frau in einer, gerade im Hiphop, männerdominierten Szene es schafft, sich entsprechend laut Gehör zu verschaffen. Schlussendlich ist es dann auch egal, dass Sookee nur vertretungsweise für die krankheitsbedingt ausgefallene Antilopen Gang einen Stopp am Chiemsee einlegt. Sie war mit Sicherheit einer der wichtigsten Acts des gesamten Wochenendes.
Einen ähnlichen Ton schlagen dann auch Jennifer Rostock an. Laut, rotzig, politisch. Mit Songs wie „Ein Schmerz und eine Kehle“ treffen sie den Nerv der Zeit und vor allem den des Publikums. Selten hat man in Einigkeit so selig grinsende Gesichter gesehen. Frontfrau Jennifer Weist weiß, wie sie sich auf der Bühne gekonnt in Szene setzt. Neben Hits ihres neuen Albums gibt es aber auch für die langjährigen Fans Songs wie „Feuer“ oder „Kopf oder Zahl“. Den internen Moshpitrekord des Festivals angeln sich die Berliner übrigens mit sechs Kreisen. In den größten traut sich auch Bassist Christoph und wird gleich mit überschwänglicher Publikumsliebe belohnt, es gibt Küsschen für ihn und vermutlich einige blaue Flecken. Küsschen verteilt auch Jennifer Weist bei „Schlaflos“. Da klettert sie spontan von der Bühne und geht auf Tuchfühlung mit ihren Fans der ersten Reihe. Man sieht ihr an: Sie hat Spaß dabei, wenn sie gemeinsam mit ihren Fans feiert und den vermutlich lautesten Sprechchor des Wochenendes zu „Mein Mikrofon“ anleitet. Damit ranken Jennifer Rostock vom Partylevel an diesem Wochenende definitiv unter den Topplätzen. Im Laufe des Konzertes hat sich bei uns ein breites Grinsen ins Gesicht geschlichen, generell ein verdammt gutes Zeichen dafür, dass die Band auf der Bühne sehr viel richtig macht. Der Meinung ist mit Sicherheit auch die Mädelsgruppe neben mir, die mehr als nur textsicher gefeiert hat. Alles richtig gemacht. Alles Hegstinnen.
Dabei bringt einen der Festivalfreitag in Lineuptechnische Schwierigkeiten, spielen mit Heisskalt, Turbostaat und Mad Caddies auf der Zeltbühne noch weitere, sehr gute Live-Acts.
Punklegenden The Offspring
Den verfrühten Festivalabschluss bilden dann The Offspring. Die Kalifornier sind seit 1986 gemeinsam unterwegs, ihre immense Bühnenerfahrung kommt ihnen am heutigen Abend zu Gute. Binnen von Minuten verwandelt sich der Platz vor der Bühne zu einem Tollhaus. Circlepits, Pogo, alles was zu einem guten Punkkonzert gehört ist mit dabei. Kein Wunder, „Pretty Fly“ und „Self Esteem“ sind Hymnen auf jeder 90er Party und die Amerikaner haben ihr Publikum mehr als im Griff. So überraschte es dann auch, dass sie knapp zehn Minuten vor regulärem Konzertende die Bühne verließen.
Frühzeitiges Ende durch Unwetter
Statt ihnen stand nun der Sicherheitschef des Festivals auf der Bühne und verkündet, dass das Festival mit sofortiger Wirkung für eine Stunde unterbrochen wird. Der Headliner würde später auftreten, es hätten sich Unwetter angekündigt. Leider ist der Mann auf der Bühne schlecht zu verstehen, man bastelt sich die Meldung aus Bruchstücken wie „Evakuierung“, „60 Minuten“, „jetzt“ irgendwie zusammen. Verständlich ist das zu dem Zeitpunkt noch nicht, es ist komplett windstill und warm, von Unwetter ist nichts in Sicht. Dennoch leisten die Zuschauer den Anweisungen folge, keine Minute zu früh, wie sich kurze Zeit später herausstellt. Aus dem Nichts ziehen orkanartige Böen, Hagel Regen und Gewitter auf. Der Weg zum schützenden Auto erscheint in diesem Moment unendlich weit, kämpft man sich durch sintflutartige Regengüsse, die einem das Atmen erschweren und einen Sturm, der einem beim Gehen die Beine wegweht. Klatschnass erreichen wir das Auto, auch auf den großen Parkplätzen wird zusammen geholfen. Über Warnblinkanlagen werden freie Schutzplätze in PKW’s angegeben, es bilden sich kurzzeitige Unwetterfreundschaften. Wer es nicht in ein Auto schafft, wird von der Polizei aufgelesen oder in einen der bereitstehenden Busse gesteckt und zu einer der Notunterkünfte gefahren. Über Twitter bieten auch Überseer Privathaushalte Schutz an. So werden kurzfristig Garagen geöffnet und Gästezimmer für die obdachlosen Camper bereitgestellt, denn eines ist klar: Schlafen kann nach diesem Unwetter auf dem Gelände keiner mehr. Über Camp FM und Twitter halten die Veranstalter die Besucher auf dem laufenden, bis sich dann kurz vor 23 Uhr die schlimmsten Befürchtungen bewahrheiten: Das Unwetter hat auf dem Konzertgelände großen Schaden angerichtet, der Spielbetrieb wird nicht mehr weitergehen können. Schnell wird nach einer Bestandsaufnahme entschieden: Das Festival wird nicht mehr weitergeführt werden, The Offspring waren der letzte Act des Chiemsee 2017.
Grundsätzlich muss man allerdings sagen, dass mit der schwierigen Situation des Unwetters gut umgegangen wurde. Sowohl Securities als auch Veranstalter blieben in dieser schwierigen Situation besonnen und trafen die Entscheidungen im Sinne des Publikums. Das Sicherheitskonzept funktionierte wunderbar, die Evakuierung lief gesittet, sodass die Anzahl der verletzten Personen verhältnismäßig gering gehalten werden konnte. An dieser Stelle muss auch hier ein Lob für die Veranstalter ausgesprochen werden, die nachvollziehbar handelten und die Besucher ständig mit passenden Informationen versorgte. So wurde ein „Freunde-Wiederfinden“ Telefon eingerichtet und seelsorgerische Unterstützung für die teils in Panik geratenen Besucher bereitgestellt. So tragisch das das Ende des Chiemsee Summer 2017 auch war, so schön war es zu sehen, wie sich Besucher, Anwohner und Veranstalter gegenseitig unterstützen.
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