Ein Festival ist nicht gleich ein Festival, ist nicht gleich ein Festival. So viel gleich zu Beginn zu den Lehren unseres Wochenendes beim Utopia Island. Die zweite Erkenntnis: Auch bombastische Liveacts brauchen Publikumsliebe und ein wenig Motivation der Leute vor der Bühne, um ein gutes Konzert abliefern zu können. Diese Erfahrung mussten an diesem Wochenende K.I.Z und Marteria machen, beides eigentlich absolute Livegaranten.
Auf verzweifelter Suche nach dem Moshpit
„Ihr seht aus wie Pinguine, die Schiss haben, dass ihnen das Ei unter’m Arsch wegrollt!“, kommentierte Nico von K.I.Z am Freitagabend das Geschehen vor der Bühne. Genauer gesagt: Das Nicht-Geschehen. Passender war eine Beschreibung des Publikums vermutlich noch nie, es bewegte sich tatsächlich niemand. Es wurde weder geklatscht noch gab es die sonst so gewohnten völlig irren Moshpits. Das Utopia Island Publikum wandelte irgendwo zwischen Bocklosigkeit, Empörung und Verwirrung. Zugegeben, den entsetzten Gesichtsausdruck einiger bei „Ich bin Adolf Hitler“ kann man vielleicht noch nachvollziehen. Wer K.I.Z und ihren Humor nicht kennt, kann sich schon einmal erschrecken. Dabei gaben sich die Berliner redlich Mühe, mit dem steifen Publikum warm zu werden. Sie erklärten ungewohnt nett und detailliert, was sie sich von ihren Zuschauern erwarten, gaben kurze und präzise Anweisungen wie „Jetzt klatschen“. Maxim stieg sogar persönlich von der Bühne herab, um ein wenig Volksnähe zu zeigen, aber auch das wurde vom Utopiapublikum nicht honoriert. Er bot kurzfristig an, sich auszuziehen. Als vom Publikum allerdings kein eindeutiges „ja“ zu hören war, stimmte er doch lieber „Was würde Manny Mark tun“ an. Schade, vielleicht hätte es die Stimmung verbessert.
Als alles nichts half, schenkten sich die vier auf der Bühne noch einmal einen weiteren Sekt ein und ergaben sich lachend in ihr Schicksal. Nicht einmal der sonst so dauergrinsende DJ Auge konnte den Abend auf seinem fahrbaren Panzer standesgemäß feiern. Stand man im Publikum und brüllte textsicher die Songs mit, kassierte man verwirrte Blicke und die Frage, warum man als Frau das bitte feiern kann. Ja. Warum? Weil man die Lieder nicht ernst nimmt, dafür die vierfache Doppelbödigkeit erkennt und Spaß an exzessiven Liveshows hat, die eigentlich nicht nur aus zähem Herumstehen bestehen. Aber weder „Ehrenlos“, noch „Hahnenkampf“ konnten das Publikum an diesem Abend zum Tanzen ermuntern. Nach einer guten halben Stunde war es dann aber Zeit für „Ellenbogengesellschaft“, endlich endlich Party! Dieses Lied ist eigentlich der absolute Live-Wahnsinn, vor der Bühne bricht nach zwei Sekunden der Überlebenskampf im Riesenpit aus. Nicht so beim Utopia Island. Die Suche nach einem Mosphit bleibt für mich an dieser Stelle erfolglos. Ein Lob geht hier an den jungen Herren im Deichbrandpulli: Wenigstens einer, der das Game versteht. Aber ein Pit zu zweit ist irgendwie dennoch sehr einsam, vor allem, wenn man dabei in blank entsetzte Gesichter starrt. Das war der Moment, an dem auch ich die Hoffnung aufgegeben habe und mich ähnlich wie K.I.Z in mein Schicksal gefügt habe. Das würde nichts mehr werden heute.
Das Publikum versteht K.I.Z nicht, die Berliner stecken aber im Korsett ihrer Bühnenperformance fest, die darauf ausgelegt ist, dass das Publikum sich auf den diktatorisch-militärischen Abend einlässt und ihren Humor versteht. Es war einfach nicht das passende Festival für K.I.Z und nicht die passende Band für ein Publikum, das beim Wort „Nutte“ blass wird.
Aus Gnädigkeit haben die Berliner dem Publikum weitere, vermutlich traumatisierende Erlebnisse wie „Käfigbett“, „Walpurgisnacht“ oder „Neuruppin“ erspart. Das wiederum war schade für alle, die K.I.Z wirklich sehen wollten. Das Konzert endet standesgemäß mit der fast romantisch anmutenden Klavierversion von „Hurensohn“, irgendwann stimmen doch ein paar Zuschauer zögerlich mit ein und singen ganz leise „Du Hurensohn, ihr Hurensöhne, probier den Cribwalk nocheinmal, ich bring dich um ich schwöre. Deine Mutter wird gefickt, solang bis sie erstickt…“ mit. Es klingt ein bisschen verschämt. Fast so, als würden sie gerade etwas Verbotenes tun. K.I.Z lachen. Irgendwie haben sie es dann doch geschafft, dem steifen Publikum den Stock ein Stück weit aus dem Arsch zu ziehen.
Galerie K.I.Z
Radiohits als Mittel zum Erfolg
Am folgenden Tag sollte es Marteria weitaus einfacher haben. Mit Hits wie „Endboss“ oder „Kids“ und „Lila Wolken“ ist er deutlich mainstreamtauglicher als die vier Diktatoren aus Berlin vom Vorabend. Schon das pompöse „Roswell“ als Opener macht klar, dass hier gefeiert wird. „Aus Area 51 wird Marteria 51…vom Endboss zur Endzeit“ dröhnt es mit lautem und angenehm massierenden Bass über das Utopia Island. Hier zeigt sich der klare Vorteil der zahlreichen Radiohits, die Marteria im Laufe der vergangenen Jahre produziert hat. „Kids“ kennt vermutlich jeder Besucher vor der Bühne oder hat es zumindest schon einmal im Club gehört. Entsprechend besser ist an diesem Abend auch die Stimmung, sodass Marteria tatsächlich irgendwie gefeiert wird. Der Rostocker zieht dabei auch routiniert seine gute Liveshow durch und spielt einen bunten Mix aus seinen Alben Er macht zumindest den Eindruck, dass er den Abend genießt und lässt es sich nach seiner Show nicht nehmen, selber noch über das Festivalgelände zu ziehen und als ganz normaler Festivalbesucher zu feiern. Dennoch ist das Publikum nicht ganz so enthusiastisch, wie man es sonst kennt. Vielleicht kann man es auch ein wenig auf die widrigen Wetterverhältnisse schieben.
Too much Matsch
Dass ein Festival stahlharte Wetternerven benötigt ist weiterhin keine große Überraschung. Der eigentlich wettertechnisch ganz passabel verlaufene Festivalsommer hat beim Utopia Island einen drastischen Einbruch erlebt. Eisige Kälte, Bindfadenregen und Sturm. So richtig lieb hat Petrus das Utopia nicht. Es dauerte nicht lange, da verwandelt sich Campingplatz und Festivalgelände in eine Schlammlandschaft. Für die Besucher bleibt nur noch wattwandern und eine glitschige Schlitterpartie, insbesondere für die, die aus Fashiongründen ihre Gummistiefel zuhause gelassen hatten und nun den elendigen Schlammtod ihrer schicken Sneakers und hübsch zum Kleidchen passenden Lederboots betrauern müssen.
Von außen hübsch anzusehen
Beim näheren Betrachten des Festivalgeländes fällt auf, dass sich hier jemand wirklich Mühe gegeben hat. Die Location direkt am eisblauen See ist gerade an warmen Sommertagen sicherlich traumhaft, als erstes fällt einem natürlich das Riesenrad ins Auge, ein Muss für jedes Festival, das etwas auf sich hält. Das Utopia ist auf schick, ganz im Coachellastyle auf Hochglanz gebügelt. Es sieht aus, als wäre es aus einem Frauenzeitschriftkulisse für das perfekte Festivaloutfit entsprungen. Ein aus derbem Holz gezimmerter Utopia- Schriftzug steht direkt am See, daneben stehen Liegestühle, Palettenliegewiesen und sogar ein weißes Leirvik- Ikeabett hat es aufs Gelände geschafft. In den Bäumen hängen zahllose Lampions und Lichterketten. Es ist wirklich schön anzusehen, das Utopia Island, das muss man ihm lassen. Selbst bei der eher bescheidenen Wettersituation vermittelte es irgendwie noch ein bisschen Sommergefühl. Leider täuscht die hübsche Schale nicht über andere Probleme hinweg.
G’schichten aus dem Leben von Problem-Tom
Die Wetterlage sollte an diesem Wochenende nämlich nicht das größte Problem sein. Die Organisation des Festivals war eine viel größere Hürde. Die Tatsache, dass man ein Ticket besaß, garantierte einem nämlich nicht unbedingt den Einlass aufs Festivalgelände. Wenn man denn einmal den richtigen Einlassschalter gefunden hat, die lässigen Ordner mit Bierdose in der Hand leiten einen nämlich gerne Passierschein 38-mäßig von A nach B („Tagestickets bitte einmal den Parkplatz runter!“, „Presse? Haben wir nicht! Bitte zu den Tagestickets!“, „Wie? Die haben euch zu uns geschickt? Bitte wieder nach vorn?“) Es kann also dennoch sein, dass man sich in der sehr langen Schlange vor Problem-Toms Container wiederfindet. Tom ist der Mann, der Probleme löst. Er verkauft Tickets für den sowieso schon überfüllten Campingplatz, verscherbelt Tagestickets und versucht so gut es geht, das Chaos zu koordinieren. Es ist ein Job, um den man ihn sicherlich nicht beneidet, insbesondere, wenn er Festivalbesuchern beibringen muss, dass ihr Ticket nicht gültig ist, weil es a) angeblich nicht bezahlt ist, obwohl die Zahlungsbestätigungsmail vorliegt oder b) veraltet. Aus welchen Gründen auch immer.
Sicherheitskontrollen sind überbewertet
Ein Leben ohne Festivalbändchen sei aber gar nicht so tragisch, erklärt uns ein Besucher fröhlich, der noch einmal sein Glück bei Tom versucht, um doch noch ein gültiges Bändchen zu bekommen. Dank wenig Securitykontrollen am Campingplatz und moderner Drehkreuztechnik am Geländezugang sei das alles kein Problem. „Einfach zu zweit durchs Kreuz, das merkt niemand!“, grinst er uns an. In Zeiten, in denen andere Festivals das Mitbringen von Gegenständen aller Art aufs Gelände komplett untersagen, sieht das das Utopia Island eher stoisch gelassen. Kontrolliert wurden wir kein einziges Mal, weder am Campingplatzeinlass noch an den Drehkreuzen. Oder am Eingang zum Backstagebereich, in den wir uns im undurchsichtigen Wegechaos aus Versehen verirrten. Allein das sorgt dafür, dass man ordentlich Nerven lässt. Darauf erst mal ein Kaltgetränk. Das stößt uns gleich auf das nächste Ärgernis, das Bargeldlos-Bezahlsystem. Die Bestellung storniert und erst mal Geld aufs Festivalbändchen geladen. Positiv anzumerken: Wirklich lange stand man hier nicht an, das Geldaufladen verlief unkompliziert. Bis einem erklärt wurde, dass man für die Aufladung des Geldes per se 1,50 Euro zahlen muss. Die Frage, warum das so ist, konnte man uns aber nicht beantworten. „Weil halt“ ist immer eine gute Begründung für Rip-off.
Drunken Masters bringen die Party zum Utopia Island
Dafür heizten am Donnerstagabend die Drunken Masters ordentlich ein. In der EDM Szene sind die Münchener inzwischen ziemlich groß und ihre Live Sets immer ein grandioser Partyspaß. Neben ihrem Remixhit „Louder“ von Portugal.The Man gab es auch „Insalata“ zu hören, ein Song, der seinen Ursprung in einem verkaterten Casper-Festivalblog gefunden hat und den die Drunken Masters zu einem tanzbaren Hit gemacht haben. Nicht zuletzt stimmen sie das Publikum auf einen der Mainacts des Wochenendes ein: K.I.Z durfte in ihrem Set natürlich nicht fehlen. Tatsächlich schafften es die Drunken Masters soetwas wie eine annehmbare Partystimmung im Zelt heraufzubeschwören, was vielleicht auch daran lag, dass sie selbst am meisten von allen feierten. Das Spaßlevel auf der Bühne war ziemlich hoch, soweit sich das von außen beurteilen lässt. Etwas, dass einen Auftritt generell immer gut macht. Es wurde getanzt und gefeiert, der Donnerstag startete also schon einmal ordentlich durch.
Experiment Elektrofestival fast geglückt
Claptone, der Mann mit der venezianischen, goldenen Maske ist ein dicker Fisch im Zirkus. Mit zwei seiner Tracks stand er bereits an der Spitze der Beatport Charts. Scheinbar losgelöst von der eigenen Idendität steht er auf der Utopia Island Bühne und bespaßt das Publikum mehr oder weniger motiviert. Gut, das mag vielleicht an seiner künstlerischen Ausrichtung liegen, dass Claptone eher introvertiert auftritt. Claptone selbst verkauft sich als mystisches Fabelwesen, das nicht greifbar ist und in seiner eigenen kleinen Welt existiert. Interessant sind allerdings die US – Einflüsse des Berliners. Aufgrund der unterkühlten Stimmung fliegt der Funke der housigen Beats nicht wirklich zum Utopia Island über, die Besucher quittieren es maximal mit einem müden Klatschen.
Einen extremen Kontrast dazu bildet Marshmello, der als lebendig gewordenes Marshmellomännchen mit leuchtendem Mülleimer auf dem Kopf tatsächlich für gute Stimmung sorgt. Seine Show ist bunt und fröhlich, geprägt von kleinen Marshmellomännchen, die über den Videoscreen hopsen, Mariocart fahren, durch psychedelische Landschaften watscheln oder zu Smores werden. Allein das sorgt für gute Stimmung. Die Kälte vertreibt Marshmello gnädigerweise mit viel Pyro, es gibt mehr Feuerfontänen als bei zehn Rammsteinshows zusammen. Davon abgesehen sind seine Songs wie „Chasing Colors“ tatsächlich tanzbar. Er beweist zudem einen gewissen Sinn für Trash, bisweilen fühlt man sich ein bisschen wie auf einer 90er Party. Das gefiel auch der Utopia Crowd, es wurde getanzt.
Ebenfalls überzeugten an diesem Wochenende Tchami und Tinie Tempah, der britische Underground-Grime Rapper. Bekannt durch Songs wie „Chasing Flies“ oder „Girls Like“ überzeugte er auch beim Utopia Island. Niemand geringeres als Martin Garrix gab sich am Samstag in Moosburg die Ehre. Bekannt durch seinen Smashhit „Animals“ war er ein großer Publikumsmagnet.
Wir haben uns mutig dem Elektroexperiment gestellt, unser Fazit: man kann es sich anschauen. Es ist in Ordnung, so richtig feierbar erschien es uns nicht. Generell war die Stimmung auch bei den großen und bekannten Elektroacts eher zäh. Ob das nun coole Zurückhaltung beim Publikum oder Feiermotivationslosigkeit war, das war uns nie wirklich klar. Vielleicht liegt es auch an der eher absurden Mischung aus dem fashionbloggeraffinen Instagirl, das am liebsten schicke Fotos fürs Social Media Profil schießen möchte oder dem Besucher, der auf irgendwelchen Substanzen übers Infield steuert. Oder vom eventinteressierten Moosburger und Umlandbewohner, der sich freut, dass endlich irgendwas passiert. Es ist auf jedenfall eine Mischung, die nicht zusammenpasst und nicht unbedingt für ein ekstatisches Festivalerlebnis sorgt. Aber vielleicht haben wir auch nur einen falschen Maßstab für Festivalspaß. Vielleicht verstehen wir das Utopia Island nicht. Vielleicht soll das so sein. Vielleicht sind wir einfach nicht cool genug. Ist uns aber egal: Lieber uncool und Spaß als cool und unrockbar.
[…] Ansagen verstehen und nicht ganz so Ernst nehmen. Manchmal klappt es dann eben nicht, wie es beim Utopia Island der Fall war. Doch bei Rock im Pott begannen die Leute im ersten Wellenbrecher schnell zu tanzen und […]